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GASTBEITRAG MARCEL LUTHE: Kein „Failed State“ aber ein Sanierungsfall

von MARCEL LUTHE, MdA

Ist Berlin ein „Failed State“, fragte mich Klaus Kelle kürzlich. Nachdem ich aus dem Lachen wieder herausgekommen war, fand ich die Frage gar nicht mehr so unberechtigt.

Zunächst einmal kommt es – wie in jeder Debatte zwischen Bürgern – darauf an, Einigkeit über die Begriffe selbst herzustellen. Der Urvater der deutschen Politolinguistik, der ehemalige CDU-Abgeordnete Josef Klein, hat mir das immer wieder als typische Technik der Grünen angeführt: man nehme einen nach allgemeinem Konsens aufgefüllten Begriff, höhle diesen mit einem scharfen Löffel langsam, aber stetig aus und fülle diesen mit einem neuen Inhalt.

„Liberalismus“ ist ein solches Beispiel. Oder auch „Soziale Marktwirtschaft“. Wer sich die Mühe macht – wobei ich den Stil auch heute noch sehr unterhaltsam finde – und Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ liest, wird schnell feststellen, dass dessen „Soziale Marktwirtschaft“ herzlich wenig mit dem zu tun hat, was die meisten Menschen heute darunter verstehen. Die heutige Wirtschaftsform der Bundesrepublik hätte Erhard als Planwirtschaft sozialistischer Prägung verstanden – mit Aufweichungen in manchen Bereichen.

Insoweit ist auch der Begriff des „Failed State“ nicht eindeutig, denn diejenigen, die in souveränen Nationalstaaten und deren Untergliederungen einen Garant von Freiheit, Frieden und Wohlstand sehen, stellen andere Anforderungen an einen Staat als diejenigen, die eine vollständige Nivellierung der Verhältnisse global erreichen wollen oder – um es mit Churchill zu sagen – die gleichmäßige Verteilung des Elends, den Sozialismus.

Aus sozialistischer Sicht ist Berlin eine Erfolgsgeschichte: durch die auch über den Königsteiner Schlüssel hinaus erfolgreich verlangte Zuweisung von Flüchtlingen ist es nicht nur gelungen, die Wohnungsknappheit in Berlin massiv zu verstärken, sondern der Senat hat durch die Anmietung von Privatwohnungen zum Zweck der Unterbringung von Flüchtlingen – etwa eine möblierte 44-qm-Wohnung für 6.000 € monatlich – zugleich erfolgreich die Preise für Wohnraum angeheizt. Diese hausgemachte Anhebung der Nachfrage – mit praktisch unbegrenzten finanziellen Mitteln – einerseits und die stetige Verteuerung von Bauprojekten durch staatliche Vorgaben zur Bauausführung andererseits führen zu einer weiteren Preissteigerung und damit dazu, dass immer mehr Angehörige der Mittelschicht immer weiter verarmen und ebenfalls staatliche Leistungsempfänger werden, während die Gutverdiener entweder als „Immobilienhaie“ zum Feindbild stilisiert werden können oder nach dem zweiten Brandanschlag auf ihr Auto Berlin gleich ganz verlassen. So oder so entsteht, was für den Klassenkampf notwendig ist: zwei einander feindselig gegenüberstehende Klassen. Insoweit ist Berlin kein „Failed State“ für Sozialisten, denn er erodiert erfolgreich den Mittelstand.

Aber auch für Kapitalisten ist Berlin kein „Failed State“ – vorausgesetzt, sie haben die richtigen Freunde im Senat. So hatte der rot-rote Senat im Jahr 2004 erfolgreich landeseigene Wohnungsbestände – so zum Beispiel 6.000 Wohnungen in Spandau und Reinickendorf – an einen privaten Investor veräußert – für immerhin rund 230 Millionen Euro. Und 2019 kaufte man dann eben diese Wohnungen wieder zurück, um den bösen Miethai zu bestrafen. Für etwa 930 Millionen Euro! Knapp 700 Millionen in 15 Jahren nur für das Halten eines Bestands – da kann man auch als Kapitalist Berlin doch nur als Erfolgsprojekt sehen!

Es bleibt nur einer auf der Strecke: der eingangs von mir erwähnte Bürger der Mittelschicht, denn er bezahlt – im Gegensatz zu den Transferleistungsempfängern unter und den klug beratenen Weltbürgern über ihm – mit einem immer größer werdenden Anteil des Staates an der vom Bürger erwirtschafteten Leistung die Kapriolen, mit denen rot-rot-grün ebenso wie rot-schwarz und rot-rot vor ihnen Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaft vernichtet und Sozialismus errichtet.

Für diese Bürger ist Berlin ein „Failed State“.

Aufgabe der Abgeordneten ist es, alle Bürger – den Souverän, uns alle! – wahrheitsgemäß und vollständig anhand objektiver Zahlen über die wahre Leistung der Regierung zu unterrichten und aufzudecken, wo und für wen dieser Staat aktuell scheitert.

In den vergangenen viereinhalb Jahren habe ich dies mit zahlreichen Anfragen an den Senat getan und musste feststellen, dass praktisch in jedem Politikfeld Berlin – stets aus Sicht des mittelständischen Bürgers – gescheitert ist.

Diese Geschichten – manche würden von Skandalen sprechen – gehen meist deutlicher tiefer und sind vielschichtiger, als es sich auf bestenfalls einer Zeitungs- oder Magazinseite darstellen lässt. Und jede einzelne wäre in einem funktionierenden Staat nicht möglich gewesen, hätte aber zumindest die Justiz und Opposition mit aller Entschlossenheit auf den Plan gerufen. In Berlin erntet man damit in diesen Kreisen bestenfalls ein müdes Schulterzucken.

Die Mittel, Berlin wieder auf den richtigen Kurs zu bringen, sind aber vorhanden. Sie müssen nur von engagierten, freien Abgeordneten und ihren ebenso freien und souveränen Wählern angewendet werden.

Berlin ist also nicht vollkommen gescheitert, sondern – positiv gesehen – ein Sanierungsfall.

Marcel Luthe ist Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.