BERLIN – Die Bilder wirken wie aus einem Science-Fiction-Film. Menschen in Schutzanzügen stehen in der Berliner Philharmonie und nehmen Abstriche aus dem Rachen.
Der Konzertabend beginnt nicht mit einer Plauderei an der Garderobe, sondern mit einem Tupfer im Hals. Denn nach monatelanger Pause haben am Wochenende die ersten Berliner Bühnen für ein Pilotprojekt geöffnet.
Im Berliner Ensemble durften rund 350 Menschen eine Aufführung schauen. Bei einem Testkonzert in der Philharmonie waren sogar rund 1000 Zuschauerinnen und Zuschauer zugelassen. Aber was wird da eigentlich getestet? Und weiß man noch, was das ist, so ein Konzerthaus?
Seit fast fünf Monaten sind viele Häuser in Deutschland wieder geschlossen. Bundesweit wird über steigende Infektionszahlen gesprochen. In Berlin wagen nun trotzdem mehrere große Häuser einen Probelauf. Sie wollen prüfen, wie aufwendig es zum Beispiel wäre, das Publikum vorab auf das Coronavirus testen zu lassen.
Kultursenator Klaus Lederer ahnt, wie das nach außen wirken kann. Bundesweit seien Theater, Konzerthäuser, Opern geschlossen. «Und wir machen – bei anschwellender Inzidenz, bei einer sich aufbauenden dritten Welle – Konzerte», sagt er am Samstagabend in der Philharmonie. «Da gibt’s Leute, die sagen: ‚Ihr seid nicht ganz dicht.’»
Die Kultur habe aber vor einem Jahr als erstes geschlossen und versuche nun, ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen. Mit dem Projekt sollten einige Dinge ausprobiert werden, von denen man an anderer Stelle hoffentlich lernen könne, sagte der Linke-Politiker. In den Räumen der Philharmonie gebe es gut funktionierende Lüftungen und Hygienekonzepte. «Wo soll man – wenn nicht hier – mal Dinge ausprobieren?»
In der Philharmonie stehen nun also Menschen mit blauen Handschuhen. Rund 500 Zuschauer konnten vor Ort einen Testtermin buchen, die anderen bekamen Termine andernorts in der Stadt. Das Ergebnis kommt kurz darauf aufs Handy. Der negative Befund muss beim Einlass vorgezeigt werden. Außerdem muss man einen medizinischen Mund-Nasen-Schutz tragen und Abstand halten.
Während in einem der Testzentren im Hintergrund leise Musik dudelt, arbeitet sich eine Mitarbeiterin mit einem Stäbchen das Nasenloch hoch. In der Philharmonie werden in eigens aufgebauten Teststationen Abstriche aus dem Rachen genommen. Dass mit Schnelltests wieder mehr Leben möglich ist, darauf hoffen viele.
Auch bei den Bayreuther Festspielen könnten sie in diesem Jahr eine wichtige Rolle spielen, wie Bayerns Kunstminister Bernd Sibler dem «Nordbayerischen Kurier» sagte. Allerdings dürften wohl trotzdem weniger Menschen in den Saal als zu normalen Zeiten. Auch im Berliner Ensemble und in der Philharmonie bleibt bei den Testvorstellungen mindestens jeder zweite Platz gesperrt. «Schachbrettmuster» heißt das.
Für das Pilotprojekt haben sich mehrere Einrichtungen zusammengetan. Bis Anfang April sind insgesamt neun Veranstaltungen geplant. Die Tickets für das Konzert der Philharmoniker? Nach Angaben der Intendantin waren sie innerhalb von drei Minuten ausverkauft. Chefdirigent Kirill Petrenko und sein Orchester spielen das erste Mal seit einem Jahr wieder vor so großem Publikum.
Getestet werden etwa Abläufe: Wie schnell kann man Menschen testen? Buchen sie lieber dezentral einen Coronatest? Oder wollen sie das direkt vor dem Theaterbesuch erledigen? Wie viele Befunde kommen positiv zurück? Auch die Frage der Finanzierung stellt sich. Im Pilotprojekt zahlen Besucher 20 Euro pro Abend, inklusive SARS-CoV-2-Antigen-Test. Normalerweise wäre das wohl teurer.
Die Ergebnisse des Testlaufs sollen ausgewertet und anderen zur Verfügung gestellt werden. Unklar ist allerdings, wann die Bühnen wieder regulär öffnen. Theatermacher Oliver Reese findet, eine Öffnung der Kultur sei auch ohne Festhalten an Inzidenz-Schwellen möglich. Als Intendant des Berliner Ensembles verweist er auf bestehende Konzepte. Die Tests seien ein zusätzliches Sicherheitsnetz.
Ähnlich argumentieren Kinobetreiber. Die Kinos hätten in Sicherheitskonzepte investiert – beim Impfen und Testen sei der Staat in der Pflicht. «Es muss flächendeckend kostenlose Tests geben», fordert Christian Bräuer vom Branchenverband AG Kino – Gilde. Wichtig sei, dass man unkompliziert etwa in der Apotheke um die Ecke einen kostenlosen Test machen könne. Dann könne das helfen.
Solche Schnelltests schlagen vor allem bei Infizierten in der hochansteckenden Phase recht zuverlässig an. Aber das Ergebnis zeigt nur eine Momentaufnahme und kann falsch sein. Ein weiteres Argument im Lockdown: Selbst wenn in einem Theater Hygieneregeln gelten, müssen die Menschen erst einmal dorthin kommen. Vielleicht fahren sie U-Bahn. Sie bewegen sich mehr und haben automatisch mehr Kontakte.
Andererseits wünschen sich viele eine Perspektive. «Ich habe es unheimlich vermisst», sagt ein Besucher der Philharmonie. Am Berliner Ensemble ruft ein Schauspieler während der Vorstellung, wie schön es sei, mal wieder Theater zu spielen. Aufgeführt wird «Panikherz». Autor Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt darin von Musik, Kokainsucht, Essstörungen. Nach der Vorstellung steht er plötzlich selbst auf der Bühne. Er guckt ins Publikum und sagt: «Echte Menschen, ist das schön.»